Stellungnahme zur Expertise von Dr. Möbus
Mittwoch, 22. Februar 2012
Stellungnahme zur Expertise von Dr. Frank Möbus „In Sachen Heinrich Sohnrey“
Im Zusammenhang mit dem Antrag auf Aberkennung des Namens der Heinrich-Sohnrey-Realschule in Hann. Münden ist eine Stellungnahme von Herrn apl. Prof. Dr. Frank Möbus in Umlauf gebracht worden, in der er auf sehr schlimme Stellen in Veröffentlichungen von Prof. Dr. Dr. Heinrich Sohnrey verweist, die in der Zeit des Nationalsozialismus erschienen sind. Darauf beziehen sich nun diverse Zeitungsartikel und ein Wikipedia-Lexikon-Eintrag von Möbus.
Hier soll nicht bestritten werden, dass Heinrich Sohnrey mit dem nationalsozialistischen Regime zusammengearbeitet hat und darin verstrickt war, Fehleinschätzungen, Irrungen und Brüchen in seiner gesellschaftpolitischen Einstellung unterlag und mit dem NS-Staat kooperierte, weil er hoffte seine sozialpolitischen Ziele mit den Nationalsozialisten umsetzen zu können. Er versagte so wie viele aus der damaligen bürgerlichen Elite und bemerkte erst sehr spät, etwa 1942/43, wie verbrecherisch das NS-System war. Das hat er gemein mit vielen der Widerstandskämpfer des Jahres 1944, die im Gegensatz zu Sohnrey zuvor meist überzeugte Parteimitglieder und praktische Akteure gewesen waren.
Möbus geht es sicherlich wie uns um das Herausfinden der historischen Wahrheit. Dafür lohnt es sich schon in eine Diskussion einzutreten und zu prüfen, welche Argumente dafür und dagegen sprechen, dass Sohnrey ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei.
Die sehr problematischen und zu verurteilenden Textstellen aus Sohnreys literarischem Werk, die Möbus anspricht, sind seit längerem bekannt und stellen keine „neuen Forschungen“ dar, wie Möbus es immer wieder gern betont. Einige davon sind auch schon zuvor publiziert und bewertet worden. Weitere Forschungen über Sohnrey während der NS-Zeit und auch eine Bewertung sind allemal wichtig und unerlässlich. Eine solche Arbeit findet die volle Unterstützung der Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft!
Dabei spielt es keine Rolle, ob der 74- bis 86-jährige Sohnrey dieses alles selbst geschrieben oder ob er bei den letzten Veröffentlichungen des Verlags, der nach dem Tode von Sohnreys Sohn Walter 1938 bald unter nationalsozialistischer Leitung stand - nur noch seinen Namen dafür hergegeben hat: Heinrich Sohnrey ist u. M. n. dafür verantwortlich und hat sich insofern auch schuldig gemacht. Das war ihm schließlich selbst bewusst und darunter litt er in den letzten Kriegsjahren und nach 1945 bis zu seinem Tode 1948. Sohnreys Zusammenarbeit und seine damit verbundenen Verstrickungen mit dem NS-Regime sowie die Nähe von Sohnreys Gedankenwelt zur NS-Ideologie werden erstmals in dem 2009 erschienenen Buch von Dr. G. Busse „Zwischen Hütte und Schloss. Heinrich Sohnrey. Schriftsteller. Sozialreformer. Volkskundler, Holzminden 2009“ gründlich unter Berücksichtigung des ideologiegeschichtlichen Hintergrunds aufgearbeitet. Auch in der von Busse vom Landkreis Göttingen erbetenen Stellungnahme zur Umbenennung der Heinrich- Sohnrey-Realschule in Hann. Münden werden diese Sachverhalte benannt.
Die aus der Zitatensammlung von Möbus „In Sachen Heinrich Sohnrey“ abgeleitete pauschale ‚Verurteilung‘ von Heinrich Sohnrey als „Rassist, Wegbereiter eines Genozids an ‚minderwertigen Rassen‘, Volksverhetzer und Kriegstreiber" findet die Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft in ihrer Schwarz-Weiß-Malerei als zu weitgehend und übertrieben, sie weist die Form der Aburteilung, quasi wie im Standgericht ohne erschöpfende Beweisführung und Verteidigung, entschieden zurück. Auch die Behauptung, Sohnrey sei schon vor 1933 Nationalsozialist gewesen und hätte eine „Verankerung“ im Nationalsozialismus gehabt, ist nach der vorhandenen Quellenlage nicht haltbar. Die Expertise von Möbus und sein Lexikoneintrag in Wikipedia sind inakzeptabel aufbereitet, einseitig und nehmen nur die Informationen auf, die der eigenen Argumentation dienen. Von einer abwägenden Biographiearbeit kann daher überhaupt nicht die Rede sein. Schon die Aufmachung der ersten einleitenden Seite der Expertise und die gegen besseres Wissen vorgenommene Abwertung und polemische Charakterisierung des Sozialreformers und Schriftstellers als „Sollingdichter" verstößt gegen gutachterliche Prinzipien.
Nach Prüfung der Zitate in der Expertise von Möbus ist uns einiges aufgefallen, das darauf hindeutet, dass der Autor nicht sehr sorgfältig recherchiert hat und ihm etliche Fehler unterlaufen sind. Das ist aber unserer Einschätzung nach symptomatisch für die gewählte Vorgehensweise in dieser sog. Expertise.
Dies zeigt sich in einer Reihe von Ungenauigkeiten in den Zitaten, bei ihrer Interpretation und bei fehlerhaften Angaben von Erscheinungsdaten der Bücher, die je nach Argumentationsabsicht eine frühere oder eine noch spätere Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Gedanken beweisen sollen. So erschien z. B.: „Die Geschichte vom schwarzbraunen Mädelein" nicht 1927, sondern 1928, „Aus Großberlin und kleinen Dörfern“ 1942 und nicht 1943. An mehreren Stellen wird der Verlauf der Erzählung bzw. des Romans völlig falsch referiert, um die „Beweiskette“ zu unterfüttern. Auf zwei der anderen Fehler, die auch entscheidend für die Argumentation in der Expertise sind, werden wir im Folgenden noch eingehen.
Auch ist die Unterschrift zum einleitenden Foto nicht richtig. Die Gedenkplakette befindet sich nicht am Heinrich-Sohnrey-Haus in Jühnde, das es überhaupt nicht gibt, sondern an der alten Schule in Möllensen, Landkreis Hildesheim. Dort war Heinrich Sohnrey zwei Jahre lang Lehrer. Das Datum ist auch falsch. Die Anbringung der Plakette erfolgte 1939 anlässlich des 80. Geburtstags von Heinrich Sohnrey auf Initiative des Kreisheimatpflegers Barner. Sohnrey hatte seine Teilnahme an der Feier aus Krankheitsgründen abgesagt und besuchte den Ort erst ein Jahr später. Auf der Feier sprachen damalige nationalsozialistische Größen der Region (Landrat, Bürgermeister etc.), die Sohnreys Einsatz für Land und Bauerntum priesen.
Die Einleitung des Aufsatzes mit diesem Foto ist problematisch, wenn nicht sogar polemisch, insbesondere nach dem Titel des Aufsatzes. So soll gleich am Anfang die enge Zusammengehörigkeit von Sohnrey und den Nationalsozialisten suggeriert werden.
Der im zweiten Absatz der Einführung des Aufsatzes genannte Gedenkstein befindet sich nicht in der Nähe der Gemeinde Jühnde, sondern mitten im Dorf auf dem alten Friedhof neben der Kirche, denn es ist der Grabstein auf Sohnreys Grab.
Bei dem Hinweis auf den Literaturatlas Niedersachsen hätte Möbus darauf hinweisen müssen, dass es sich um eine Internetplattform von Schulen handelt und um eine darin vor 8 Jahren erschienene gemeinschaftliche Schülerarbeit einer Schule in Holzminden.
Gravierender für die Einschätzung der Validität der Behauptungen und Folgerungen in der Expertise von Möbus sind jedoch folgende Punkte, die hier kritisch aus der Sicht einer verstehenden Biographiearbeit zur Diskussion gestellt werden:
Warum werden Zitate, die zentralen Behauptungen zugrunde liegen, aus dem Zusammenhang gerissen und fehlerhaft wiedergegeben?
Möbus berücksichtigt nicht, dass die Werke im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet und „aktualisiert“ worden sind. Die erste Auflage von „Das schwarzbraune Mädelein" (1928) hat eine andere Aussage als die völlig überarbeitete und mit einem anderen Vorwort und Schlussteil versehene zweite Auflage, die als „Das fremde Blut" (1938) erschien. Daraus abzuleiten, Sohnrey sei schon vor 1933 Nationalsozialist gewesen, ist doch sehr gewagt. Ebenfalls problematisch ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf einen Spruch „Wer nicht will betrogen sein, halte sein Haus von Juden rein.“, der zugleich auch als ein Beleg dienen soll, dass „viele der Schriften Sohnreys“ dem Antisemitismus „verpflichtet“ seien. (Möbus, S. 7). Dieser Spruch, der 1924 in dem volkskundlichen Buch Die Sollinger „zu lesen“ „stand“, ist nicht von ihm ‚gedichtet‘ worden, wie behauptet wird, sondern steht in einer umfangreichen volkskundlichen Dokumentation von Töpfersprüchen aus Fredelsloh, die auf Tellern und Krügen zu finden waren. Doch wird er nun aufgrund des Artikels von Möbus in Zeitschriftenaufsätzen und in Diskussionen als Sohnreysche Dichtung und Meinung und damit als Beleg für Sohnreys Antisemitismus herangezogen.
Darf auf der Grundlage einer Interpretation einzelner Zitate behauptet werden, Sohnrey plädiere für den Genozid, er sei ein Volksverhetzer und ein Vorbereiter des Krieges gegen Polen?
Hier geht es vor allem um die Redlichkeit bei einer Beweisführung. Das sei zunächst einmal an einer Textstelle aus dem Buch „Das fremde Blut" von 1938 beispielhaft erläutert, die als Beleg für eine Rechtfertigung der „Vernichtung 'minderwertiger Rassen', den Genozid" durch Sohnrey (Möbus S. 13) genommen worden ist. Das Zitat wird falsch wiedergegeben: Sohnrey lässt den Pastor im Buch „Das fremde Blut" nicht von einer „minderwertigen" (diesen Begriff haben wir bei Sohnrey nicht gefunden), sondern „minderen" Rasse sprechen. Das ist sicherlich nur ein gradueller Unterschied, aber symptomatisch dafür, dass Sohnrey sich immer wieder, wie auch in anderen Texten, von der herrschenden nationalsozialistischen Terminologie absetzt. In der von Möbus zitierten Textpassage wird dann eine Relativierung weggelassen. Auch wird verschwiegen, dass an anderer Stelle die junge Frau Lisette, um die es in dieser Geschichte geht, sagt: „Als ob Zigeuner nicht auch Menschen wären, so gut wie ich und du!" (Das fremde Blut, S. 130). Am Ende der von Möbus inkriminierten Textstelle äußert sich der Pastor: „...müssen wir eben doch im Hinblick auf die Folgen des Blutmischmasches herb und derb sagen: 'Fort mit Schaden!". Hier geben wir Möbus Recht, dass das eine schlimme rassistische Äußerung ist. Doch können wir ihm nicht folgen, wenn er schreibt: „Das Gebot 'Du sollst nicht töten!' ist damit liquidiert; die NS-Vernichtungspolitik 'minderwertiger Rassen' wird von einem Geistlichen legitimiert." (Möbus, S. 5) Ob Sohnrey mit dem Ausruf „Fort mit Schaden!" einen Genozid und die Gaskammern meinte und damit rechtfertigen wollte, ist doch recht unwahrscheinlich, denkt man an seine religiöse Einstellung und das Fehlen jeglicher eindeutiger Äußerungen von ihm. Als 1938 oder davor die Vorgängerauflage „Die Geschichte vom schwarzbraunen Mädelein" zur Neuauflage „Das fremde Blut" überarbeitet wurde, war für ihn nicht abzusehen, dass wenige Jahre später Menschen planmäßig umgebracht werden würden. Eine Rechtfertigung eines Genozids im Vorhinein ist daher als absurd anzusehen. -
Möbus ist der Meinung, dass der Roman „Fußstapfen am Meer", der ihm in einer Auflage von 1935 vorlag, „demjenigen politischen Diskurs der Nationalsozialisten verpflichtet [sei], welcher der kulturell gestützten Vorbereitung des Krieges diente" (Möbus, S. 11). Nun finden sich aber fast alle indizierten Textpassagen, bis auf die Romanfigur des „Zichorienjüds", schon in der ersten Auflage des Buches im Jahre 1913, die damals unter dem Titel „Die Lebendigen und die Toten" erschienen ist. In der Zeit kann von dem Führer Hitler und vom Krieg gegen Polen noch gar nicht die Rede sein. Der Landstrich von Danzig über Gdingen bis zur Halbinsel Hela, auf der Sohnrey mit seiner Familie mehrmals Urlaub machte, gehörte damals wie ganz Westpreußen noch zum Deutschen Reich. Sohnrey thematisierte in diesem Buch die ärmliche, abergläubische, fast archaische Lebenssituation der Einheimischen und wollte auf eine polnisch-nationalistische Unterwanderung der Bevölkerung aufmerksam machen, der Einhalt geboten werden müsste, was die preußischen Behörden seiner Meinung nach jedoch nicht taten.
War Sohnrey ein „Vorherverkünder" Adolf Hitlers?
Aus einer Verlagswerbung zum Buch „Wulf Alke. Roman einer Jugend", in der mit Bezug auf eine Reichstagsrede des Führers 1933 davon geschrieben wird, dass „Wulf Alke gleichsam eine Vorherverkündigung des Führers Adolf Hitler" sei (Möbus, S 11), folgert Möbus, Sohnrey sei ein Vorherverkünder des Führers. Er stützt diese Aussage weiterhin mit einer Textpassage aus dem Buch (1933, S. 89), in der Sohnrey einen Schweinehirten, der ein studierter, dann verkrachter und alkoholabhängiger 1848er ist, dem jungen künstlerisch begabten, aber aus ärmlichsten Verhältnissen stammenden Wulf Alke sagen lässt: „Warum kann nicht das ganze Deutsche Volk ein Sinn und eine Seele, ein Hirt und eine Herde sein? Ja freilich, da müßte man denn doch wohl schon einen um das deutsche Land schicken, der wie mein Sultan [das ist der Hund des Hirten] die Herde zusammenreißt, zusammenbellt und zusammenhält. [...] Oh, ihr Leute, wann wird der scharfe Hund kommen dem Deutschen Volke?" Ohne Zweifel kommt hierin eine Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen und politischen Situation in der Weimarer Republik zum Vorschein und die Hoffnung, dass eine zentrale Obrigkeit es besser richten könnte. Doch aus dieser einzelnen Passage ableiten zu wollen, das Buch sei „der Propagierung des 'Führergedankens' verpflichtet" (Möbus, S. 5) scheint uns nicht zutreffend zu sein. Denn für den Kenner der Sohnreyschen Lebensgeschichte ist das Buch ein selbstbiographischer Roman, zu deren Fertigstellung ihm jahrelang seine Familie und seine Freunde Mut gemacht haben und in dem Sohnrey mit der Illegitimität eines Grafensohnes abrechnet und zeigen möchte, dass es möglich ist, es aus eigener Kraft zu etwas zu bringen. Möbus irrt ebenfalls mit der Behauptung, der Roman sei „dem nationalsozialistischen Kunstverständnis ... verpflichtet" (S. 5). Sohnrey dagegen fühlt sich Zeit seines Lebens der „Heimatkunst" verpflichtet, die es schon lange vor den Nationalsozialisten gab und zu deren Vertretern Heinrich Sohnrey gehört.
War Sohnrey schon vor 1933 überzeugter Nationalsozialist?
Die Feststellung, dass Sohnrey „bereits lange vor Beginn des NS-Regimes überzeugter Nationalsozialist war, zeitlebens dieser Ideologie verhaftet blieb, ihre furchtbarste Konsequenz – den Genozid an ‚minderwertigen Rassen‘ – befürwortete und den Weltkrieg als von der Überlegenheit der ‚nordischen Rasse‘ legitimierte Notwendigkeit betrachtet hat“ (Möbus, S. 7)), ist ebenfalls nicht haltbar und mit den herangezogenen Zitaten nicht belegbar. Er ist nicht schon vor 1933 und auch nicht danach Nationalsozialist gewesen und er war kein Parteimitglied, sondern er war ein konservativer, dem Kaiserreich und dem preußischen Staat sich verpflichtet fühlender Mensch mit deutschnationalen Einstellungen, ein Anhänger der gesellschaftlichen Vorstellungen von Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), dessen Großstadtkritik, Agrarromantik und Bauerntumsideologie, zu der sich auch ein gewisser latenter Rassismus und Antisemitismus gesellte und aus der sich die „Blut- und Bodenideologie" entwickelte, die dann später auch von den Nationalsozialisten in ihre Ideologie übernommen und intensiv propagandistisch genutzt wurde. Aber kann man Sohnrey deshalb als überzeugten frühen Nationalsozialisten bezeichnen? Über Kontakte Sohnreys zur nationalsozialistischen Bewegung in der Weimarer Republik ist uns nichts bekannt, auch finden wir in seinen Zeitschriften und Büchern keine von ihm diesbezüglich bejahend verfassten Texte.
War Sohnrey ein Propagandist der Nationalsozialisten?
Wenn die von Möbus herausgefilterten und indizierten Sätze, die ohne Zweifel höchst problematisch sind, und die von ihm überinterpretierten Romanfiguren aus Sohnreys letzten Büchern „Wulf Alke", den Neuauflagen „Fußstapfen am Meer" und „Das fremde Blut" so nebeneinandergestellt werden, drängt sich der Eindruck auf, Sohnrey habe systematisch und absichtsvoll den Nationalsozialisten als Handlanger, Zuträger und Sprachrohr hinsichtlich eines Genozids, als Weltkriegstreiber und Befürworter einer Ostexpansion gedient und wäre geradezu ein Nazi-Propagandist und -Täter gewesen. Davon kann aber nach unserem Kenntnisstand nicht die Rede sein. Die im Text von Möbus herausgestellten Sohnreyzitate werden in seinen Kommentaren dazu mit Begriffen aus der nationalsozialistischen Ideologie ergänzt. Da es nicht Sohnreys eigenen Worte sind, setzt Möbus sie in Anführungsstriche und suggeriert so, es seien Sohnreys Begriffe. Man fragt sich unwillkürlich: Ist das heute gängige Praxis in der Germanistik? Mit der von Möbus verwendeten Methode einer kommentierten Zitatenzusammenstellung ließe sich auch schnell nachweisen, dass z. B. Ulbricht ein CDU-Anhänger oder Max Planck ebenfalls ein Nazi- Propagandist gewesen sei.
Wie steht Sohnrey zur deutschen Ostexpansion?
Auskunft dazu gibt die Broschüre „Landflucht ist Volkstod. Ein Wort an die Lehrer zur Schulentlassung der Landjugend", die im Auftrage des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft und des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung herausgeben wurde (Berlin o. J., ein dort abgedrucktes Zitat stammt aus dem Jahr 1940). Sie erschien nicht in der Sohnreyschen Deutschen Landbuchhandlung und ist u. M. n. im ersten Teil wirklich eine programmatische Schrift, angereichert mit Parolen und Aussprüchen von Hitler und anderen NS-Größen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass nur geringe Textteile von Sohnrey stammen und die Ministerien Sohnreys Text in ihrem Sinne entsprechend ergänzt haben, so ist doch festzuhalten, dass weder von der Umsetzung des Generalplanes Ost noch davon die Rede ist, dass, wie Möbus (S. 11) meint, Sohnreys der Ansicht wäre, der eroberte Grund und Boden ganz Osteuropas sei ein „legitimes Eigentum" des deutschen Volkes. Eindeutig wird in dieser Schrift „nur" die Wiederbesiedlung der nach dem ersten Weltkrieg verloren gegangenen und durch den Polenfeldzug wieder zurückgewonnenen Territorien (Posen und Westpreußen) angesprochen und nicht Osteuropa bis zur Wolga.
Stimmt die Behauptung von Möbus, Heinrich Sohnrey sei von keinen Repressalien betroffen gewesen?
Möbus behauptet, Sohnrey sei während der NS-Zeit weder von einer Enteignung noch von Repressalien betroffen gewesen. Das muss wohl etwas differenzierter betrachtet werden. Hätte Möbus genauer in Busses Sohnrey-Biographie geschaut, hätte er nicht darüber hinwegsehen können, dass Sohnrey zwei Prozesse wegen des Erhalts seiner Deutschen Landbuchhandlung geführt hat. Den ersten hat er verloren (1933), den zweiten gewonnen (1934). Insofern hat Möbus recht, dass eine Enteignung letztlich nicht stattgefunden hat. Diese beiden Prozesse haben Sohnrey aber, dessen Name noch 1933 unter dem Treuegelöbnis „88 deutsche Schriftsteller" für Adolf Hitler stand, sehr irritiert und zum Nachdenken gebracht, ob er wirklich mit den Nationalsozialisten seine Vorstellungen für das Land umsetzen kann. Sicherlich hatte dieser für ihn überraschende „Schuss vor den Bug" auch die Konsequenz, dass sich Sohnrey in den Folgejahren bei der Überarbeitung von Neuauflagen, Vorworten, Neuerscheinungen und in der Verlagswerbung sich vielleicht mehr als nötig dem Regime andiente Der 75jährige Sohnrey hatte zu dieser Zeit schon den Verlag in die Hände seines Sohns Walter übergeben, der diese Aufgabe bis zu seinem Tode 1938 wahrnahm in ständiger Auseinandersetzung mit Vorschriften und mit der Einflussnahme durch die Nationalsozialisten. Ab wann dann schließlich ein kommissarischer Leiter von den Nationalsozialisten eingesetzt worden ist, konnte noch nicht herausgefunden werden. Ab 1939 taucht der Name Artur von Machui vom landwirtschaftlichen Forschungsdienst Dahlem auf, der spätestens ab 1943 (das geht aus der noch z. T. vorhandenen Korrespondenz von 1943/44 bis 1948 hervor) bis zum Kriegsende die Leitung innehatte. In dieser Zeit ging es Sohnrey immer wieder darum, wenn die Schließung von Verlagen angeordnet wurde, seinen Verlag als Einkommensquelle für seine Familie zu erhalten. Der Landbuchverlag bleibt als einer der wenigen bis zum Kriegsende bestehen, sicherlich deswegen, weil die Nationalsozialisten durch von Machui und den nationalsozialistischen Forschungsdienst Dahlem den Verlag de facto in ihren Händen hatten und nicht wegen des Inhalts von Sohnreys Romanen und Erzählungen, die in den letzten Jahren gar nicht mehr nachgedruckt werden durften. Nach der Zerstörung des Verlagshauses 1943 befand sich zudem der Verlag im Gebäude des Forschungsdienstes Dahlem und Sohnrey selbst hielt sich bis zum Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Neuhaus im Solling auf. Der Verlag machte aber weiterhin Geschäfte mit dem nationalsozialistischen Staat, wenn auch nur in bescheidenem Maße, was wohl gerade für die Gehälter der Beschäftigten ausreichte. Wie aus dem Schriftverkehr hervorgeht, wussten sowohl der Verlagsleiter als auch Sohnrey, was genehm war, und sie hielten sich dann auch daran.
Sind Sohnreys Schriften in der NS-Zeit verboten oder eingestellt worden?
Möbus behauptet weiter: „[...] nicht eine einzige seiner Schriften ist vom NS-Regime verboten worden“ (Möbus, S. 2). Diese Behauptung kann er so nicht aufrechterhalten. Hinsichtlich der Bücher stimmt das, jedoch musste die Mehrzahl seiner Zeitschriften eingestellt werden oder sie wurden unter anderem Namen und anderen Schriftleitern weitergeführt. Nach Kriegsbeginn war es für Sohnrey fast unmöglich seine beliebten, auflagenstarken Romane nachzudrucken. Der Genehmigungsprozess dauerte meist gut ein Jahr und fiel meist negativ aus.
Worauf fußt die Behauptung, Sohnrey habe keine Reue gezeigt?
Es stimmt nicht, dass, wie Möbus (S. 13) behauptet, Sohnrey sein Verhalten und seine Ansichten nicht bereut hätte. Er tat es in Briefen an Churchill, den Alliierten Kontrollrat und ihm bekannte Verleger, Kirchenleute und Wissenschaftler (Durchschriften und Kopien im Familienarchiv Schwering-Sohnrey und im Archiv der Sohnrey-Gesellschaft). Aber auch schon in den Kriegsjahren, so berichtet seine 1925 geborene Enkelin, die einmal die Verlagsarbeit übernehmen sollte, hätte Heinrich Sohnrey im Verlag und im Familien- und Freundeskreis häufig derart über das NS-Regime geschimpft, dass die Anwesenden ihm gegenüber die Befürchtung äußerten er rede sie alle „um Kopf und Kragen" oder „bringe sie ins Gefängnis". Zu einer Publikation, in der er mit Hitler und dem NS-Regime abrechnen wollte, und zu einer Wiederaufnahme seiner vor 1933 erfolgreichsten Zeitschriften, in denen er sich ebenfalls von den Nationalsozialisten distanzieren wollte, kam es dann nicht mehr aus Krankheitsgründen, wegen seines hohen Alters und weil es für ihn in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus finanzieller Not und seines nicht abwendbaren, abgeschiedenen Aufenthalts in Neuhaus im Solling auch keine Gelegenheit dazu gab. Namhafte Professoren und Politiker, auch aus Göttingen, hielten nach 1945 weiterhin Kontakt zu Sohnrey und distanzierten sich nicht von ihm. Nach seinem Tode Anfang 1948 haben viele von ihnen die Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft mitbegründet. Das alles wäre wohl nicht geschehen, wenn Sohnrey wirklich so belastet und uneinsichtig gewesen wäre, wie Möbus es behauptet.
Kann mit einer Zitatenschau und deren Interpretation wirklich ein „vollgültiges Urteil" abgegeben werden?
Ein „vollgütiges Urteil über die ideologische Verankerung des ‚Sollingdichters‘ zu fällen“ (Möbus, S. 3) auf der Grundlage der von Möbus vorgelegten Dokumentation mit Passagen aus seinen wenigen nach 1933 neu erschienenen Büchern halten wir für zu gewagt und zu wenig abgesichert, weil das Hintergrundwissen über Sohnreys Leben in früherer und in der nationalsozialistischen Zeit sowie seine taktischen Überlegungen hinsichtlich seines Verlages und bei der Verfolgung seiner agrarreformerischen Ziele überhaupt nicht herangezogen wird. Auch fehlt die Berücksichtigung ideologiegeschichtlicher Erkenntnisse aus der inzwischen vielfältigen Forschungsliteratur. Wir sind wie Busse der Meinung, dass es durchaus schwierig ist, auf Grund unserer bisherigen Kenntnisse und der unzulänglichen Quellenlage wegen der Ausbombung von Wohnhaus und Verlag 1943 eine solche „Verankerung“ (Möbus) im Nationalsozialismus“ eindeutig zu belegen.
Für wen gilt der Vorwurf der „Geschichtsklitterung" und „Verharmlosung"?
Die Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft weist diesen in den Verlautbarungen von Möbus latent vorhandenen Vorwurf für sich selbst entschieden zurück. Die Forderung, der „Geschichtsklitterung um die Gesinnung Heinrich Sohnrey[s]“ Einhalt zu gebieten, (Möbus, S. 13), ist zweifelsfrei richtig. Aber das gilt auch für Möbus selbst, der ohne einen wissenschaftlich fundierten biographischen Ansatz, mit nachlässig recherchierten Behauptungen und willkürlich zusammengefügten Zitaten vorschnell pauschale und weitreichende Zuordnungen und Bewertungen vornimmt. Das dient nicht der Wahrheitsfindung.
Wir hoffen, dass Kritik an der Meinung und Beweisführung von Möbus nicht automatisch als „Verharmlosung" und „Reinwaschen" abgetan wird. Das würde jede Diskussion ersticken.
Für die Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft ist es daher keineswegs nachvollziehbar, wie die Aussage eines Professors als wissenschaftlich angesehen werden kann, wenn bei einer eigenmächtigen Aufarbeitung und Recherche dieser Thematik solche Fehler unterlaufen. Hier kann jeder für sich bewerten, ob diese Fehler gar bewusst akzeptiert worden sind. An dieser Stelle muss auch die Frage erlaubt sein, ob sich hier vielleicht jemand auf Kosten „anderer“ profilieren will.
Die Heinrich-Sohnrey-Gesellschaft will sich nicht falsch verstanden wissen: Die Gesellschaft befasst sich seit vielen Jahrzehnten differenziert und kritisch mit dem Wirken Sohnreys und wird dies auch weiterhin tun. Die fragwürdige Rolle Sohnreys im Nationalsozialismus ist nicht akzeptabel. Es muss jedoch unserer Ansicht nach auch gesehen werden, dass seine Ideen vom friedlichen, selbstbestimmten dörflichen Miteinander sowie von einer sozialen ausgewogenen Gemeinschaft zweifelsfrei hochaktuelle und dauerhaft wichtige Themen bleiben werden.
Literatur:
Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindlichkeit (= Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft; 20), Meisenheim am Glan 1970.
Gerd Busse: Zwischen Hütte und Schloss - Heinrich Sohnrey: Schriftsteller, Sozialreformer, Volkskundler. Holzminden 2009.
Gerd Busse: Zum 150sten Geburtstag von Heinrich Sohnrey. In: Südniedersachsen. Zeitschrift für Regionale Forschung und Heimatpflege, 37. Jg., H. 3/4, 2009, S. 67 - 69.
Gerd Busse: Stellungnahme zur Umbenennung der Heinrich-Sohnrey-Realschule in Hann. Münden, unveröff. Manuskript, Göttingen 2011.
Frank Möbus: In Sachen Heinrich Sohnrey, unveröff. Manuskript, Göttingen 2011.
Georg Stöcker: Agrarideologie und Sozialreform im Deutschen Kaiserreich - Heinrich Sohnrey und der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege 1896-1914, Göttingen 2011.
Heinrich Sohnrey
Archiv und Gedächtnisstätte Jühnde